Effective Accelerationism: Die neue Silicon-Valley-Ideologie ist dunkel und kalt – Kolumne (2024)

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Effective Accelerationism: Die neue Silicon-Valley-Ideologie ist dunkel und kalt – Kolumne (1)

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Alles fing ganz harmlos an. Der Versuch, die Welt zu verbessern, sollte auf ein solides empirisches Fundament gestellt werden: Wie kann Verhalten, das dem Allgemeinwohl dienen soll, möglichst effektiv gestaltet werden? Wie gibt man Geld am besten aus? Die Antworten sind beispielsweise Studien über die Effektivität verschiedener Formen der Entwicklungshilfe. Diese für sich genommen sehr sympathische Idee bekam von Philosophen einen Namen:

Effective Altruism, zu Deutsch effektiver Altruismus (EA). Kurzdefinition: Der Versuch, karitatives Verhalten, Spenden, Entwicklungshilfe und ähnliche Ansätze durch kontinuierliche empirische Begleitung besser, eben effektiver zu machen. Und die Diskussion der Frage, ob es nicht eine moralische Verpflichtung gibt, als privilegierter Mensch, beispielsweise als wohlhabender Bewohner einer westlichen Industrienation, einen substanziellen Teil seines Geldes oder seiner Zeit zu spenden. Und damit anderswo – möglicherweise weit entfernt – Leben zu retten.

Ermordung noch nicht lebender Menschen?

Die Ursprünge des effektiven Altruismus liegen in der akademischen Philosophie. Inzwischen gilt er als die vermutlich bestfinanzierte philosophische Denkschule der Geschichte: Viele sehr reiche Menschen aus der Tech- und Kryptowährungs-Szene sind bereit, viel Geld an diese Bewegung und ihre Institutionen zu spenden. Der bekannteste war Sam Bankman-Fried, der wegen des spektakulären Crashs seiner Kryptobörse FTX und eines angeschlossenen Fonds mittlerweile im Gefängnis sitzt.

Ein Teil dieser Menschen interessiert sich inzwischen vor allem für existenzielle Menschheitsrisiken. Mit dieser Logik: Wenn es ein Verbrechen ist, einen Menschen in einem fernen Land etwa durch Unterlassen einer Spende verhungern zu lassen, dann ist es auch ein Verbrechen, das Leben künftiger Generationen von Menschen zu verhindern.

Die große Angst vor der künstlichen Intelligenz

Das mit dieser Denkweise verbundene Schlagwort ist Longtermism. Kurzdefinition: Eine Denkrichtung, die sich vor allem dem langfristigen Überleben der Menschheit, existenziellen Risiken und ihrer Vermeidung widmet (sie war in dieser Kolumne schon mehrfach Thema). Die wichtigsten philosophischen Vertreter dieser Denkrichtung sind die in Oxford arbeitenden Philosophen William McAskill, Toby Ord und Nick Bostrom.

In den vergangenen Jahren haben sich die Anhänger von Effective Altruism und Longtermism mit großer Hingabe vor allem einer bestimmten Bedrohung gewidmet. Nein, nicht der Klimakrise.

Sie treibt die Angst um, dass eine superintelligente, übermächtige künstliche Intelligenz (KI) die Menschheit unterjochen oder beiläufig auslöschen könnte. Diese Angst ist weitverbreitet. Nicht nur das verstorbene Physikgenie Stephen Hawking hatte Angst vor der KI-Apokalypse. Bei einer Konferenz in Großbritannien unterhielten sich über das Thema kürzlich auch Premierminister Rishi Sunak, US-Vizepräsidentin Kamala Harris, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Giorgia Meloni und ein chinesischer Vizeminister für Wissenschaft und Technologie mit Leuten wie OpenAI-Chef Sam Altman, Elon Musk und Vertretern diverser anderer Unternehmen von Meta bis Deepmind. König Charles III. kam auch vorbei.

Offen rechtsextreme Ideen

Während die KI-Besorgten begannen, auf diese Weise politisches Kapital zu sammeln, entstand an der US-Westküste eine durchaus aggressive Gegenbewegung. An der Oberfläche geht es ihren Anhängern nur um die Nützlichkeit technischen Fortschritts, um Optimismus und die Abwehr vermeintlich übertriebener Bedenken. Darunter aber liegt etwas anderes, Dunkleres.

Diese neue Bewegung, die sich maximal unbeschränkten, immer weiter beschleunigten technischen Fortschritt wünscht, wird Effective Accelerationism genannt, oft als e/acc abgekürzt. Ihre Fans schreiben das Kürzel oft in ihre Twitter/X-Kurzbiografien. Das Adjektiv effective ist als Hinweis auf eine explizite Gegenposition zum effektiven Altruismus zu verstehen.

Accelerationism (ohne effective davor) gibt es als philosophische Idee schon länger. Sie entstand in den Neunzigerjahren an der britischen University of Warwick in einer Gruppe um den Philosophen Nick Land, der selbst einen Hang zur Beschleunigung hatte: In seinem kryptischen Werk »Fanged Noumena« nannte Land »die heilige Substanz Amphetamin« – landläufig als »Speed« bekannt – »das Werkzeug meiner Wahl«. Land ist besessen vom Kapitalismus als »selbst-eskalierendem techno-kommerziellen Komplex«, der den Menschen an sich verändere. Mittlerweile vertritt Land offen rechtsextreme Ideen. Sein Denken hatte aber schon immer etwas Apokalyptisches.

Massenmörder sind Fans

Eine der Spielarten des Accelerationism hat beängstigende Fans. Rechtsextreme Terrorgruppen wie die in den USA entstandene »Atomwaffen Division« etwa, und Einzeltäter wie Brandon Tarrant, der in Neuseeland 49 Menschen erschoss. Oder den Mann, der einen bewaffneten Terroranschlag auf eine Synagoge in Halle verüben wollte und anschließend zwei Menschen tötete. Rechtsextreme Akzelerationisten glauben, dass sie durch rassistisch motivierte Gewalttaten einen Bürgerkrieg auslösen könnten, an dessen Ende die »weiße Rasse« den endgültigen Sieg davontragen werde.

Rassistische Motive spielen für die meisten »effektiven Akzelerationisten« von heute aber nach eigenem Bekunden keine Rolle. Sie glauben, in einer absichtsvollen Umkehrung der Longtermism-Ängste, dass »die Entschleunigung der KI Leben kosten wird«. Bloß keine Regulierung! So hat es Marc Andreessen, Entwickler des ersten Webbrowsers und heute superreicher Wagniskapitalist (»Andreessen Horowitz«) in einem »Techno-optimistischen Manifest« vor ein paar Monaten formuliert. Andreessen weiter: »Tode, die durch verhinderte KI hätten verhindert werden können, sind eine Form von Mord.«

Eine lange Liste mit »Feinden«

Klar ist für Andreessen auch, wo die »Feinde« stehen. Die Liste ist lang. Darauf finden sich unter anderem die Konzepte »existenzielle Risiken« (ein expliziter Seitenhieb gegen EA), »Nachhaltigkeit« und »soziale Verantwortung«. Sie alle stünden dem einzigen echten Heilsbringer im Weg: der beschleunigten und möglichst unbeschränkten Weiterentwicklung von Technologie, vor allem KI.

Andreessens »Manifest« ist ein wildes, inkohärentes Sammelsurium von Ideen und Behauptungen. Viel libertäre Ideologie, viel Pathos, lauter Twitter-fähige Slogans, lauter offenkundige Widersprüche.

Hochintelligente, halbgebildete Nerds

So zitiert er in der ersten Hälfte des langen Textes den anarcho-kapitalistischen Theoretiker David D. Friedman mit den Worten »Menschen tun für andere nur aus drei Gründen etwas – Liebe, Geld oder Gewalt.« Liebe »skaliere« aber nicht, das mit der Gewalt sei probiert worden und habe nicht funktioniert, »bleiben wir also beim Geld«.

Später – im gleichen Text! – schreibt Andreessen dann: »Wir glauben, dass extrinsische Motivationsquellen – Reichtum, Ruhm, Rache – schon in Ordnung sind. Aber wir glauben, dass intrinsische Motivationen – die Befriedigung, etwas Neues zu schaffen, die Kameraderie eines Teams, der Erfolg, zu einer besseren Version des eigenen Selbst zu werden – befriedigender und dauerhafter sind.«

Einfache Faustregel für theoretische Abhandlungen: Wenn der Autor sich nicht einmal mit sich selbst auf sein grundlegendes Menschenbild einigen kann, kann man auch dem Rest nicht trauen.

Zum Glück stimmt, das wissen wir aus der Psychologie, eher das Letztere: Menschen kooperieren gern. Aber für Empirie interessieren sich die »effektiven Akzelerationisten« generell nur sehr selektiv. Es sind hochintelligente, aber halbgebildete Nerds, angetrieben von Narzissmus und intellektuellem Größenwahn. Fast alle sind Männer.

»Verachtung für die Frau«

Andreessen bedient sich zudem an vergifteten Quellen. Etwa bei dem italienischen Dichter Filippo Tommaso Emilio Marinetti, einem Begründer der Kunstrichtung des Futurismus und unverblümten Protofaschisten. Andreessen zitiert – ohne ihn namentlich zu nennen – aus Marinettis »Futuristischem Manifest« von 1909: »Schönheit existiert nur im Kampf. Es gibt kein Meisterwerk ohne aggressiven Charakter. Technologie muss ein gewaltsamer Angriff auf die Mächte des Unbekannten sein, um sie der Herrschaft des Menschen zu unterwerfen.«

Dabei vergisst Andreessen zu erwähnen, dass im selben »Futuristischen Manifest« buchstäblich zwei Spiegelstriche weiter das hier steht: »Wir wollen den Krieg feiern – die einzige Heilung für die Welt – Militarismus, Patriotismus und die destruktive Geste der Anarchisten, die schönen Ideen, die töten, und die Verachtung für die Frau. Wir wollen Museen und Bibliotheken zerstören, die Moral, Feminismus und alle opportunistische und utilitaristische Feigheit bekämpfen.«

Auch Andreessen betrachtet den »Elfenbeinturm« als »Feind«. Und Kämpfe findet er auch super – er hat über den am Ende ausgefallenen Cage Fight zwischen Elon Musk und Mark Zuckerberg einmal geschrieben, das sei eine »tolle« Idee. Überhaupt sollten möglichst alle Mixed Martial Arts (MMA) erlernen, denn: »Wenn es gut genug für Herakles und Theseus war, dann ist es gut genug für uns. Kämpft!«

»Die Stimmung ist Reaktionär«

Die Polizei könne Menschen in den USA oft ohnehin nicht mehr schützen, also gebe es einen »echten, praktischen Bedarf« für »angewandte Selbstverteidigung«. Der Anarchokapitalist von heute nimmt gewissermaßen das Ende des staatlichen Gewaltmonopols, das er selbst herbeisehnt, schon einmal privat vorweg (viel Glück bei der Abwehr mit Schusswaffen ausgestatteter Angreifer mit »angewandter Selbstverteidigung«).

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Noch beunruhigender wird das Ganze, wenn man weiß, dass Andreessen Horowitz – mit viel patriotischem Pathos unterfüttert – gerade mächtig in Rüstungstechnologie investiert.

Ezra Klein von der »New York Times« kommentierte die Einlassungen so: »Andreessens Essay als Argument zu behandeln geht am Kern vorbei. Es ist eine Stimmung. Und die Stimmung ist reaktionär.« Ist das Erbe der Hippies in Kalifornien endgültig passé?

»Keine Loyalität gegenüber biologischen Substraten«

Als »Begründer« der neuen turbo-techno-kapitalistischen Ideologie gilt ein mittlerweile als Physiker und ehemaliger Google-Mitarbeiter enttarnter Kanadier namens Guillaume Verdon, ein großer Fan von Elon Musk, Google-Mitgründer Larry Page und Amazon-Gründer Jeff Bezos. Er hatte unter dem Pseudonym »Based Beff Jezos« gemeinsam mit anderen Silicon-Valley-Nerds auf X, ehemals Twitter, die These von der Attraktivität unkontrollierter, immer weiter beschleunigter technologischer Entwicklung gefeiert und ausgearbeitet.

Andreessen oder dem Start-up-Inkubator-Chef Garry Tan geht es bei e/acc letztlich vermutlich doch vorrangig um möglichst große Freiheiten für ihr Geschäftsmodell. Verdon ist da deutlich extremer. Zitat: »E/acc empfindet keine besondere Loyalität gegenüber biologischen Substraten für Intelligenz und Leben.« Das »Licht des Bewusstseins, der Intelligenz« werde, um »sich zu den Sternen hin auszubreiten« die fleischliche Form hinter sich lassen müssen.

Im Klartext: Der Begründer der neuen Silicon-Valley-Ideologie, die reiche und mächtige Fans hat, findet, die Zukunft kommt auch ohne Menschen aus. Zu den Sternen reist dann die KI.

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